Argentinien: Tanzen in Zeiten der Krise

Argentinien erlebt die grösste wirtschaftliche und politische Krise seit Jahrzehnten. Immer wieder wurde mir versichert, dass ich das Land in einem "historischen Augenblick" besuchte. Alle Argentinier sind zutiefst beunruhigt, denn sie sehen einer sehr ungewissen Zukunft entgegen. Diese tiefe Verunsicherung und Existenzangst spiegelt sich auch im Kulturleben des Landes. Die Theater und Kinos in Buenos Aires erleben im Moment einen völlig antizyklischen Boom. Viele Säle sind Abend für Abend ausverkauft. Mit dem wenigen Geld, das die Leute noch in der Tasche haben, wollen sie etwas zu sehen und zu hören bekommen, das sie ablenkt oder sich in übersetzter Form mit der Wirklichkeit auseinander setzt und dem etwas entgegensetzt, was Tag für Tag in ihren Köpfen herum geht. Kunst scheint im schwierigsten Moment für eine Fortsetzung des Lebens als ein "Prinzip Hoffnung" zu stehen. Sie spiegelt wie in einem Alptraum das, was auf der Strasse, in der Realität geschieht. Jeder auf der Bühne gesprochene Satz und jede noch so versteckte Anspielung erhält eine unerwartete Brisanz. Im Theater teilen sich die KünstlerInnen und Zuschauer ihre Fragen und Ängste und fühlen sich so vielleicht ein bisschen weniger allein gelassen.

Dieses Phänomen lässt sich auch auf den Tanz übertragen. Jedes noch so banale Thema wird zu einem Statement über die Lebenssituation in einem aufgerüttelten Land, wo scheinbar kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Trotz grosser finanzieller Herausforderungen wird geprobt und trainiert. Man versucht trotzdem weiter zu planen und Produktionen vorzubereiten. Arbeit und Verdienst gibt es sowieso kaum, das Überleben ist für alle schwierig. Vielleicht hilft das Tanzen dabei, nicht den Mut zu verlieren.

Der moderne Tanz kam aus Europa und später aus den USA nach Argentinien. Die Einwanderer haben hier wie in vielen anderen Bereichen die Entwicklung bis in die 60ziger Jahre stark geprägt. Parallel dazu waren viele der wichtigsten Truppen im 20. Jahrhundert auf Gastspielreise in Argentinien. Angefangen mit den Ballets Russe und der Truppe von Anna Pavlowa bis zu Maurice Béjart und dem Wuppertaler Tanztheater. Heute ist es vor allem das Internationale Festival für Tanz und Theater in Buenos Aires, das bis vor kurzem internationale Kompanien eingeladen konnte. Es ist zur Zeit wieder in Planung, aber niemand kann voraussagen, ob im November 2003 die finanziellen Mittel und der politische Wille da sein wird, das Festival auch tatsächlich durchzuführen.

Ein wichtiger Schritt in der eigenständigen Entwicklung des modernen Tanzes in Argentinien war 1977 die Gründung des Ballet Contemporáneo del Teatro San Martín in Buenos Aires. Neben dem der Ballettkompanie, die zeitweise unter der Leitung von Oscar Aráiz war, besteht auch seit vielen Jahren eine zeitgenössische Tanzausbildung am Teatro San Martín. Viele der wichtigen Choreografen und Tänzer heute sind durch diese Schule gegangen, so etwa Roberto Galvan, der in Europa arbeitet.

Die Anzahl der freischaffenden Kompanien und Choreografen in Buenos Aires hat sich seit den 70ziger Jahren, wie überall auf der Welt, vervielfacht. Ich kann hier nur einige erwähnen und möchte die Unvollständigkeit entschuldigen:

  • Um Nucleodanza ist es in den letzten Jahren ein wenig stiller geworden. Die Truppe unter der Leitung von Margarita Bali und Susana Tambutti war in den 80ziger Jahren an unzähligen internationalen Festivals eingeladen (u.a. auch "Steps"). Die beiden Frauen sind heute sporadisch als Choreografinnen tätig. Sie engagieren sich immer noch auf vielfältige Weise für das Tanzschaffen und die Kulturpolitik in Argentinien und unterrichten im In- und Ausland.
  • Roxana Grinsteins war erst vor kurzem in Zürich (Koproduktion mit Theater an der Sihl). Neben Gastchoreografien wie in Zürich arbeitet sie choreografiert regelmässig für ihre eigene Kompanie. Daneben führt sie ihr eigenes Theater und ein sehr grosses, luftiges Tanzstudio in Buenos Aires
  • Die erfolgreichste Choreografin der jungen Generation ist Brenda Angiel mit ihrer Aerial Dance-Technik. Die Tänzer und Tänzerinnen tanzen buchstäblich in der Luft. Es entstehen dadurch ungewohnte Perspektivenwechsel und die Choreografien strahlen eine ungeahnte Leichtigkeit und Freiheit aus. Ihre Arbeiten entwickeln sich mehr und mehr zu perfekten Wunderwerken, die die Zuschauer zum Staunen bringen.
  • Der Choreograf und Tänzer Gustavo Lesgart hat keine Berührungsängste. Er arbeitet ebensoviel in Argentinien wie in Europa, tanzte in verschiedenen Kompanien im In- und Ausland und verfolgt seine eigene künstlerische Arbeit seit 1994 zusammen mit Inès Sanguinetti (Compañia Lesgart - Sanguinetti). Er hat unter anderem in der sogenannten X-Group in P.A.R.T.S. (Brüssel) teilgenommen. Seine Arbeiten sind nicht nur in Argentinien vielbeachtet, sein neuestes Stück ist auch im Tanz im August 2002 in Berlin zu sehen.
  • Susana Szperling hat fünf Jahre in New York gelebt und neben vielem anderen intensiv Release Technik studiert. Das macht sie heute zu einer gefragten Lehrerin in Argentinien. In ihren Choreografien wie zum Beispiel "inflamable" oder "los seres imaginarios" kommt etwas ganz Eigenes zu Vorschein, was sich wohl eher unter die typisch lateinamerikanische magische Realität einordnen lässt. Nicht umsonst hat sie sich den Text "Das Buch der imaginären Wesen" von Jorge Luís Borges als Inspiration für ihr letztes Stück ausgesucht.
  • Die grössten Argentinischen Ballettstars der Gegenwart, Julio Bocca und Maximiliano Guerra haben beide ihre eigene kleine (Junior-)Ballettkompanie in Buenos Aires gegründet. Beide Truppen unterstützen einheimische Choreografen, indem sie einzelne von ihnen als Gastchoreografen verpflichten. Die beiden Truppen sind äusserst beliebt und verdienen sich einen wichtigen Teil ihrer Budgets durch internationale Gastspiele.

Bis letztes Jahr war CoCoA (Coreógrafos Contemporáneos Asociados) enorm aktiv. Mit Unterstützung der Kulturministeriums und der Stadt Buenos Aires wurden regelmässig internationale Gastdozenten (u.a. Julyen Hamilton, Meg Stuart, Izok Kovacs) für Workshops eingeladen und alle zwei Jahre organisierte sie ein wichtiges Festival für zeitgenössischen Tanz in Argentinien. Auf Grund der politischen und wirtschaftlichen Situation und komplizierter Verschiebungen im Kulturministerium sind diese Art von Aktivitäten nun unmöglich geworden. Man kann nur hoffen, dass die bestehenden Strukturen in den nächsten Monaten nicht noch weiter verschwinden und noch Energie da sein wird, neben dem Kampf ums nackte Überleben, Verschwundenes wieder zu beleben.

Argentiniens Tanzszene lebt, trotz allem müsste man vielleicht sagen. Ich habe Proben gesehen, die in Wohnzimmern stattgefunden haben. Tangotänzer, die seit Monaten an einem neuen Zusammenspiel zwischen Mann und Frau forschen, eigenen Versuchen nachgehen, das Führen und Geführt werden neu zu definieren. In Buenos Aires gibt es die grösste Contact-Community der Welt. Fast täglich finden Jams statt, einmal im Monat in einer grossen Halle, wo sich über 100 "Contacter" treffen. Tanz wird aber auch im Alltag gepflegt. Natürlich findet man in Buenos Aires die weltberühmten Milongas, wo sich die Tangosüchtigen Nacht für Nacht treffen. Auf dem Land wird dagegen die Folklore gepflegt. Ganz selbstverständlich wird an den sonntäglichen "Ferias" (Jahrmarkt) auf der Strasse "Chacarera" und "Samba" getanzt. Jeder kann mitmachen!

Bettina Holzhausen, Juli 2002


Bettina Holzhausen unterrichtete im Juli 2002 auf Einladung der Universität von Buenos Aires Workshops in zeitgenössischer Tanztechnik und Improvisation/Komposition am Centro Cultural Riccardo Rojas in Buenos Aires und an der Universität Cordoba.

 

Szenenfoto
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