Indien: "Wie ist es möglich,
dass Sie als Tänzerin
vom Tanzen nichts verstehen!"

Bangalore ist eine der modernsten Städte Indiens. Mit seinen ca. 7 Millionen Einwohnern hat sie eine noch überschaubare Grösse und das Strassenbild ist nicht so von Elend und Armut geprägt wie etwa Kalkutta oder Bombay. Trotzdem musste ich schnell feststellen, dass ich in einer völlig anderen Welt gelandet war, die sich schon im einfachen Alltagsleben sehr von dem mir bekannten unterschied. Noch viel tiefer gehen die Unterschiede in den Auffassungen über Kultur, im speziellen zeitgenössischer Kunst. Bangalore hat einen kleinen Kreis sehr aktiver Künstler und Künstlerinnen verschiedenster Sparten. Man kennt sich und trifft sich bei Vorstellungen und Ausstellungseröffnungen. Der grösste Teil der Bevölkerung jedoch begegnet zeitgenössischer Kunst, wenn überhaupt, mit grossem Erstaunen, Neugier aber auch mit Unverständnis. Persönliche Gefühle auszudrücken, entspricht in keiner Weise der indischen Tradition, schon gar nicht öffentlich. Indem man aus einem festen gesellschaftlichen Rahmen ausbricht und Grenzen überschreitet, begibt man sich ins Abseits und kann den Schutz der Familie und die Stellung in der Gesellschaft verlieren.

Zeitgenössischer Tanz, ist das wichtig?

1992 hat Jayachandran Palazhy das Attakkalari Centre for Movement Arts in Alwaye, Kerala gegründet. 2001 zog Attakkalari nach Bangalore um. Jayachandran hat an der London Contemporary Dance School studiert und pendelt schon seit Jahren zwischen seiner Heimat Indien und London, wo er mit seiner indisch-europäischen Kompanie IMLATA hin und wieder von sich reden macht.

Attakkalari ist ein privates Zentrum für Tanz, das in seinem grossen Studio viele verschiedene Aktivitäten und Dienstleistungen anbietet: Es findet jeden Tag Unterricht für professionelle Tänzer und Laien statt. Unter der Bezeichnung Dance Development Program DDP können begabte, junge Tänzerinnen und Tänzer über mehrere Jahre Training in zeitgenössischem Tanz erhalten. Die Besten unter ihnen haben die Möglichkeit mit Gastchoreografen zu arbeiten und werden zu einer Juniorkompanie zusammen gefasst. Diese tritt mit ihrem Repertoire im In- und Ausland auf. Die Studenten des DDP unterrichten selbst Tanz und Improvisation für Kinder an verschiedenen Schulen in Bangalore. Hin und wieder finden im Attakkalari kleinere Vorstellungen und Showings statt. Das Zentrum verfügt über eine für Indien ganz beachtliche technische Infrastruktur und bietet etwa 80 Zuschauern Platz.

Alle zwei Jahre findet "Facets" statt. Drei Wochen intensives Workshop Programm und Zusammenarbeit von Indern und Ausländern, Tänzer und Choreografen, geleitet von Gastlehrern aus Indien (Bharatnatyam, Kathak, Kalari und Yoga) und aus dem Ausland (zeitgenössischer Tanz, Komposition, Improvisation, Digitale Medien, Lichtdesign). Im Anschluss daran wird am Tanzfestival "Bangalore Biennal" zeitgenössischer Tanz aus dem In- und Ausland in den grossen Theatern der Stadt präsentiert. Die nächste Ausgabe von "Facets" und der "Bangalore Biennal" ist für Februar und März 2004 in Vorbereitung.

Eine eigentliche Ausbildung in zeitgenössischem Tanz gibt es in Indien nicht. Die DDP-Studentinnen und Studenten bringen Erfahrung in verschiedensten Techniken mit: klassischer indischer Tanz, Kalari (Kampfsportart aus Kerala), Cinematic-Dance, Schauspiel oder Yoga. Im Gegensatz zu Europa sind es in der Mehrheit junge Männer, die tanzen wollen. Die jungen Frauen werden traditionell eher davon abgehalten, sich intensiv körperlich zu betätigen und sind darum oft weniger stark und zurückhaltender als Gleichaltrige in Europa. Unter jungen Leuten gibt es ein zunehmendes Interesse an zeitgenössischem Tanz und eine Neugierde neben den traditionellen Techniken auch eine freiere, persönlichere Form zu finden. So ganz neu ist übrigens nicht, denn schon in den 50-ziger und 60-ziger haben sich indische Choreografen für Modern Dance aus Amerika interessiert und manche Künstler und Künstlerinnen aus jener Generation haben in den USA studiert und im klassischen Tanz in Indien mit ihren neuen Erfahrungen einiges bewegt. Attakkalari ist ein Element in einem langsamen Prozess; Altes zwar zu erhalten, aber darauf aufbauend neue Schritte zu wagen. Wie überall gibt es konservative und progressive Kräfte, die diesen Prozess beeinflussen. Die Frage für mich ist, ob die Geschwindigkeit dieser Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunst auch dem Tempo der Veränderung der indischen Gesellschaft entspricht oder ob es zu einer Art "Reformstau" kommt. Es ist für mich als aussenstehende Europäerin schlicht unmöglich, diese Frage schlüssig zu beantworten. Darum halte ich mich besser an die Aussage von Ashok Desai im NZZ-Folio über Indien: "Kein anderes Land auf der Welt verbindet so viel Sanftmut, so viel Provinzialismus mit solcher Offenheit, so viel geschichtliches Erbe mit so viel Dynamik. Indien ist kein Land, es ist eine Filmvorstellung. Und für mich gibt es kein dramatischeres Schauspiel auf der ganzen Welt. Möge die Vorstellung noch lange andauern."

Tanz und Film

In Indien ist der Tanz im Kino sehr präsent. Die indische Filmproduktion besteht übrigens bei weitem nicht nur aus Bollywood-Filmen. In Südindien werden Filme in der jeweiligen lokalen Sprache produziert. Sie unterscheiden sich in Stil, Inhalten und Machart ein wenig voneinander. Die wichtigste Filmstadt im Süden ist Madras (Chennai), Hauptstadt von Tamil Nadu. Die dort ansässige Tamil-Filmindustrie produziert fast so viele Filme pro Jahr wie Bollywood in Bombay. Indische Filmschauspieler müssen gut tanzen können, denn jeder Film ist gespickt mit Song & Dance-Szenen. Die Filmchoreografien sind gestalterisch meistens identisch. Die Schrittfolgen werden dem Song entsprechend zusammengesetzt und fast immer von einer grossen Tänzergruppe synchron und frontal dargeboten. Die Tänzer sind angehalten zu lächeln und den Text mitzusingen. Der sogenannte "Cinematic-Dance" ist ähnlich wie in Europa Hiphop- oder Breakdance bei Kindern und Jugendlichen sehr beliebt. Es werden Kurse in vielen Schulen und privaten Institutionen angeboten. Die Indischen Filmschauspieler sind die absoluten Superstars, da können Madonna oder Michael Jackson zusammenpacken. Wer es schafft, sich einen Platz vor der Kamera zu erobern, gehört zu den Aufsteigern der indischen Gesellschaft. In Madras habe ich Tänzerinnen und Tänzer angetroffen, die mit neuen Autos inklusive Chauffeur vorgefahren sind. Da herrschen andere Einkommensverhältnisse!

Eindrücke aus der Welt des klassischen Tanzes

Die verschiedenen klassischen Tanzstile sind gewachsene Teile des kulturellen Bewusstseins der Inder. Die Mythen und Göttergeschichten, die im klassischen Tanz in stilisierter Form dargebracht werden, sind allgemein bekannt. Es wird nicht erwartet, dass neue Geschichten erzählt werden, noch nicht einmal auf eine neue Art. Die Meister ihrer Kunst verstehen es, tradierte Choreografien mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit, detailgetreu und exakt in der überlieferten Form darzubringen. Das erfordert eine für uns fast unvorstellbare Disziplin. Das Nrityagram Dance Village in der Nähe von Bangalore ist eine von vielen Schulen, wo solches gelehrt wird. Vor 12 Jahren von der legendären Filmschauspielerin und Tänzerin Protima Gauri gegründet, entwickelt es sich in den ersten Jahren schnell zu einer beispielhaften Schule für verschiedene Tanzstile. Anfänglich wurden Jungen und Mädchen in Odissi, Bharatnatyam oder Kathak unterrichtet. Als es dann zu "Problemen" im Zusammenleben von jungen Männern und Frauen kam, wurden die jungen Männer aus dem Dorf verbannt. Die Ausbildung steht nun nur noch Mädchen offen. Sie müssen sich für drei Jahre verpflichten. Das Studium ist kostenlos und für Kost und Logis ist im Dorf gesorgt. Sie haben sich nur aufs Tanzen zu konzentrieren. Zur Zeit sind nur vier Studentinnen im Dorf und es wird ausschliesslich Odissi-Stil unterrichtet. Tänzerin ist kein "ordentlicher" Beruf in der indischen Gesellschaft und die meisten jungen Mädchen sind nicht mehr bereit, so viel Privatleben für ein Tanzstudium zu opfern. Der mangelnde Nachwuchs wird langsam zu einem Problem. Nrityagram ist ein paradiesischer Ort: Kleine Ziegelhäuser in traditioneller Bauart umgeben von wunderschönen Gärten. Es ist ordentlich und still dort und man fühlt, wie sich nach nur einem Tag eine tiefe Konzentration und ein grosser Frieden einstellt. Die Proben der Nrityagram Company waren eine Entdeckung für mich: So viel Lebendigkeit in den Gesichtern, eine umwerfende Perfektion von Ausdruck und Bewegung. Es ist aber alles künstlich, nichts davon ist erspürt, so wie wir uns das aus dem europäischen Theater gewohnt sind. Die Tänzerinnen sind nur Medium zur Darstellung einer alten Geschichte. Ihre Meinung, ihre Empfindung, ihr eigenes Sein spielt dabei keine Rolle.

Einige Wochen davor bin ich zum ersten Mal klassisch indischem Tanz während einer Veranstaltung des Kulturvereins der kleinen Stadt Thrissur in Kerala begegnet. Im traditionellen Kerala haben es die Veranstalter gewagt ein zeitgenössisches Tanzsolo von Dil Sagar (ein junger Tänzer, der im Attakkalari studiert hat) und ein Workshop-Showing und eine Soloperformance der Kuchipudi-Lehrerin Anupama Mohan zusammen zu bringen. Der Kuchhipudi-Workshop im Vorfeld fand unter dem riesigen Schattendach im obersten Stock eines Gemeinschaftszentrums statt und wendete sich speziell an Lehrerinnen und Lehrer des Kuchipudi-Stil aus ganz Südindien. Bewegungsabfolgen von mehreren Takten Länge werden wiederholt. Dazwischen folgen detaillierte Korrekturen der Augen- und Fingerstellungen etwa. Die Tänzerinnen und Tänzer notieren Listen von Mantras in ihre Notizbücher. Eine Choreografie baut sich aus bestehenden Modulen auf, die einer mythologischen Erzählung folgend, in eine Reihenfolge gebracht werden.

In Thrissur werde ich von der lokalen Presse belagert. "Sie sind Tänzerin? Welchen Tanzstil bevorzugen Sie denn; Bharatnatyam, Odissi, Kuchipudi oder ...?" - "Es tut mir leid, aber ich kenne mich im indischen Tanz nicht aus. Ich kann Ihre Frage nicht beantworten." - "Wie ist es möglich, dass Sie als Tänzerin, vom Tanzen nichts verstehen!"

Informationen und Adressen:

Bettina Holzhausen, Juni 2002

 

Szenenfoto
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